Wie geht Patchwork? Augen zu und Prost.

Meine Ehe würde eher ein Buch als nur eine Seite füllen. Die Trennung erfolgte nach knapp vier Jahren – glaube ich. Vielleicht waren es auch fünf. Details. Jedenfalls kam nach fünf Jahren Singledasein, mit meiner Tochter, der Mann um die Ecke, der mich erstmalig zum Überdenken meines Lebenskonstruktes brachte. Der Burgfräulein Ära ein Ende setzte quasi. Ein Mann zum lachen, shoppen, verreisen und für romantische Abende zu Zweit. Einer, der mir die Türen aufhielt, und mich zum Essen ausführte. Mich mit dem Motorrad abholte, um verrückte Sachen zu machen und mir heute noch Blumen mit nach Hause bringt. Wo ist der Haken, fragt ihr Euch? Ich möchte es vorsichtig ausdrücken, denn es gibt keinen “Haken”, sondern eher drei Kinder. ON TOP! Mit ihm habe ich mir also den Stiefmutterstatus angelacht. Gerade ich, deren Nerven schon blank lagen, wenn meine Tochter nur eine Freundin zum spielen mit nach Hause brachte. So wurde ich fortan Zeuge davon, wie mindestens vier Kinder (1 eigene Niederkunft, 3 aus externer Dienstleistung) die Wohnung innerhalb von wenigen Minuten in ein Katastrophengebiet verwandelten. Nee, ich übertreibe nicht! Jedes zweite Wochenende, und auch gerne darüber hinaus, heißt es nun seit vier Jahren: “Wem gehört das nasse Handtuch, dass gerade Kränze in unseren FengShui-Bio-Holzboden frisst? Warum ist die Toilette nicht abgezogen? Warum steht eigentlich die Haustüre auf? Von wem ist die Apfelkitsche mit Fell? Warum ist da eine Ameisenstraße vom Nachtisch in den Kleiderschrank?! Müsst ihr Euch eigentlich die ganze Zeit prügeln? Seid doch mal lieb zueinander!
Ok, dachte ich mir – das muss zu regeln sein. Stichwort REGELN! Also zitierte ich den Nachwuchs zu mir und befahl den Schweigefuchs: 1. Wenn man die Toilette benutzt, benutzt man hinterher auch die Klospülung. 2. Für den seltenen Fall, dass tatsächlich mal jemand auf die Idee kommt, sich zu waschen, liegen dazu Handtücher bereit, die anschließend aufgehangen werden. 3. Es ist darüber hinaus untersagt auf dem Sofa zu essen, weil ich einfach keinen Milchgeruch, oder Thunfischflecken auf den Möbeln mag. 4. Ich würde es darüber hinaus begrüßen, wenn ihr Euch nicht regelmäßig die Haare ausreißt und wenn wir gewisse Ausdrücke aus dem Vokabular streichen usw. Fazit der Schweigeminuten: Ein Blick in aufmerksame Gesichter, die brav nickten und einem das Gefühl gaben, alles davon zur Kenntnis genommen und abgespeichert zu haben. Dies gab mir zunächst die Sicherheit, gesiegt und das Ruder wieder in der Hand zu haben. Aber das war und ist eine ganz miese optische Täuschung! Schon am nächsten morgen konnte beobachtet werden, wie der Kleinste versuchte mit dem Spüllappen die Müsli und Milchreste aus der sündhaftteuren Kaschmirdecke zu entfernen. Auf eine Standpauke und den Verweis auf die Nummer mit dem Schweigefuchs folgte nur ein kurzes, betretenes “tut mir leid” und damit war das Kind auch schon wieder vor dem Fernseher in sein Nickelodeon Programm vertieft.
Es gibt sicher Frauen, die den Wahnsinn um sich herum gar nicht wahrnehmen und es ganz herrlich finden, wie Kinder sich entwickeln. Wenn sie entdecken, dass Lebensmittel durchaus anfangen zu stinken, wenn man sie kurz im Kleiderschrank verstaut und hinterher vergisst. Wenn sie praxisnah erleben, daß Bonbonpapier sich auf einem Parkettboden nicht festtritt. Wie sie die Erkenntnis erlangen, dass die Wäsche sich nicht von alleine wieder in den Schrank räumt. Erst recht nicht, wenn man sie überall auf dem Boden verteilt hat und aus Faulheit im Bündel in den Wäschekorb schmeißt. (Der Erfahrung nach kommt irgendein Doofer, der wäscht und alles wieder ordentlich in den Schrank räumt.)
Was soll ich Euch sagen: Kinder geben einem so viel! Ich bin immer ganz erfreut, wenn sie zur Tür reinkommen und denke mir: Ich habe Euch wirklich vermisst! Das relativiert sich leider meistens sehr schnell. Diese Patchwork Nummer ist von außen betrachtet eine tolle Sache. Meine Tochter findet es im übrigen auch prima. Denn endlich ist jedes Wochenende “Kirmes”. Letztendlich finden wir Eltern das auch ganz toll. Zum Beispiel im Urlaub, wenn wir, Dank des eifrigen Miteinanders der Kinder, schon mittags den ersten Gin Tonic in Ruhe trinken können. Fakt ist: wir LIEBEN unsere Kinder. Freuen uns aber auch sehr, wenn Menschen vorbei kommen und sich mit ihnen beschäftigen. Wir verleihen Sie auch gerne mal für eine Woche oder so. (Spaß…)
Zum Thema Patchwork und Beziehung:
Kritik am eigenen Kind zu ertragen ist wirklich schwer. Prinzipiell gehen einem die nicht leiblichen Kinder einfach mehr auf den Sender. Denn der liebe Gott, oder wer auch immer uns schuf, hat da einen raffinierten Schutzmechanismus eingerichtet. Wenn man sich nun in der sogenannten zweiten Runde seines Liebeslebens einen Partner mit Anhang angelt, kommen nicht nur die Kinder, sondern auch echte Herausforderungen in Sachen Beziehung auf einen zu. Ich bin davon überzeugt, dass die Konstellation von Partnern mit beidseitigem Anhang die Überlebensfähigste ist. Denn nur, wenn man selbst ein oder mehrere Kinder hat, kann man nachvollziehen, wie schwer erträglich Kritik am eigenen Kind ist. Dennoch muss aber über das tägliche Miteinander gesprochen werden. Insbesondere, wenn die Erziehungsmethoden des Partners mit den eigenen nicht übereinkommen. Meiner Erfahrung nach sollte man dieser oftmals unangenehmen Unterhaltung in Momenten der Ruhe nachkommen. Im täglichen Wahnsinn fehlen oftmals die Nerven und die Objektivität.
Es gibt aber auch wirklich herzzerreißende Momente, in denen unsere Kinder zu viert in einem Bett schlafen, sich verkleiden oder eine Aufführung einstudieren. Aber egal wie man es betrachtet, eine zusammengewürfelte Familie ist und bleibt immer mehr Arbeit. Blut ist dicker als Wasser und im Zweifel bleibt sich jeder seines Stammes treu. Dies gilt nicht nur für die Kinder – auch als Erziehungsberechtigter braucht man viel Besonnenheit, Toleranz und Dickfelligkeit. Wenn man sich auf das Patchworkleben einlassen will, gilt folgende Regel: Ganz oder gar nicht! Und wenn es mal wieder mit dem Schweigefuchs nicht klappt, hilft ab und zu auch mal ein GinTonic. Oder auch einfach mal RTL II einschalten, denn es geht immer noch schlimmer…
Wenn wir ganz ehrlich sind, gibt es doch die Vorzeige Familien, bei denen wirklich immer alles glatt läuft, die Kinder wohlerzogen und gut in der Schule sind – und zwar ohne Aussetzer – nicht wirklich. Was es aber gibt, ist eine wirklich große Familie, in der auch der Ex-Partner mit seiner neuen Frau und seinen zwei weiteren Kindern mit uns eine Einheit bilden. Das ist sicher nicht immer so gewesen. Es braucht eine gewisse Zeit, bis eigene Befindlichkeiten soweit überkommen sind und so etwas möglich ist. Aber wenn man sich hier und dort zusammenreißen kann, Trennungsangelegenheiten NICHT auf dem Rücken der Kinder ausbadet und vor allem die nötige innere Größe hat, ist es möglich. Wie bei uns. Ich kann heute mit meiner kleinen Patchworkfamilie und mit meinem Ex-Mann und seiner neuen Familie in den Urlaub fahren. Wir verleben dort eine großartige Zeit ohne dabei auch nur für eine Minute ein komisches Gefühl zu erleben. Ganz im Gegenteil. DAS ist Familie und etwas, auf das man wirklich stolz sein kann. Gerne erzähle ich meiner Tochter wie selten und wertvoll das ist. Besonders dann, wenn sie traurig darüber ist, dass Mama und Papa nicht mehr zusammen sind.
Leider funktioniert das bei uns auch nur in die eine Richtung. Denn nicht jeder Expartner ist um diesen Frieden bemüht. Somit erlebe ich auch hautnah ein Paradebeispiel dafür, wie es nicht laufen sollte. Also an alle da draußen, die sich in einer Trennungssituation befinden oder schon lange darüber hinweg sind: Augen auskratzen ist für Amateure! Atmet doch mal alle tief durch, lasst die Prinzipienreiterei und besinnt Euch. Immerhin habt ihr Euch alle mal geliebt. Es mag Euch vielleicht zu Rosamunde-Pilcher-mäßig erscheinen, aber wenn ihr Euch und Euren Kindern etwas Gutes tun wollt, dann lebt denen doch mal vor, wie man Konflikte überkommen kann. Ohne sich dabei kaputt zu machen. Gekränkt, verletzt und schlecht behandelt wurden doch an irgendeinem Punkt ALLE schon mal. Und auch wenn es nicht einfach ist zu verzeihen (vielleicht sogar darüber hinweg zu sehen, verlassen worden zu sein), so könnt ihr die eigenen Befindlichkeiten doch lieber mit einer Flasche Rotwein ausmachen. “Die Vergangenheit könnt ihr nicht mehr ändern, aber die Zukunft schon” lautet das Mantra.
Lohnt sich!
Eure (heute sehr weise) Käthe.
Schöner Artikel, schönes Auto! 😜
Melanie Mühl attakiert die Patchwork-Lügner
Patchwork: Das Erziehungsmodell der Entsorgten und Verantwortungslosen steht am Prüfstand der faz-Reporterin Melanie Mühl. Ihre Streitschrift “Die Patchwork-Lüge” hat das Zeug, endlose Beziehungs-Diskussionen auszulösen.
Es ist selten geworden in der post-Ära des Verstandes, dass jemand ehrliche Worte spricht. So geschehen in “Die Patchwork-Lüge”, einer heute im Hanser Verlag erschienenen Streitschrift der faz-Reporterin Melanie Mühl.
Darin thematisiert die Autorin -stellvertretend für das Beziehungs-Modell der Entsorgten- auch die Lebenswirklichkeit des Bundespräsidenten Christian Wulff als Eisberg, der aus einem insgesamt weitläufigen euphemistischen Verblendungs-Zusammenhang ragt.
Die Patchwork-Lüge – Eine Streitschrift
Es folgt keine soziologische Analyse von Ursachen für Beziehungsflucht. Das Buch ist sehr viel direkter, ehrlicher. Und so sollte eine Streitschrift auch sein. Angriffsziele sind die Scheidungslockerheit und die verlogenen Rechtfertigungsstrategien der Beziehungsunfähigen.
Für Melanie Mühl bedeutet Erwachsensein vor allem Verantwortung und Festlegung, nicht das Eilen “von einer Versuchsanordnung des Glücks zur nächsten”. Schuld an der Patchwork-Lüge ist das Schönreden der eigenen, und vom Staatsfeminismus subventionierten Verantwortungslosigkeit.
Es überrascht, dass die Journalistin nicht, wie in Frauenlektüre üblich, die Box der Pandora öffnet, und in dreckigen Löchern der eigenen oder fremden Biografien wühlt wie Altfeministinnen das gerne tun. Die Autorin redet auch nicht von Schlüsselerlebnissen. Sie greift die Beziehungsflüchter direkt und moralisch an.
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Was du anfängst, sollst du auch fertig machen!
Wie soll jemand diese Erziehungsweisheit glaubhaft an seine Kinder vermitteln, wenn er selber bei jeder Kleinigkeit aus der Beziehung flüchtet, und hinein in die nächste, die meist nicht anders verläuft als die vorherige? Muster wiederholen sich. Und es ist eben nicht der Ex-Partner an allem schuld. Und “den Richtigen” gibt es freilich ebenso wenig wie den Falschen. Das Glück oder Unglück einer Beziehung entscheidet sich in der Konfliktfähigkeit der Partner. Sie ist eine Frage von Interessen, vor allem aber eine Sache der Entscheidung; Für oder gegen ein Leben in Verantwortung. Entsprechend kritisiert die Autorin das, zur Mode gewordene Unschuldssuhlen, und das gegenseitige Versichern der Scheiternden, korrekt gehandelt zu haben, auch wenn ihre Verlogenheit und Selbstgerechtigkeit längst zum Himmel stinkt.
Jugendwahn, die Atmosphäre der Selbstoptimierung, die konsumartige Wahrnehmung des Partnermarktes, überzogene Erwartungen an die Liebesheirat.
Viele Gründe, aber keine Entschuldigung für eine Misere, an der vor allem Kinder leiden. Die Autorin geht zu Recht nicht auf veränderte ökonomische Faktoren des Zusammenlebens ein, weil das nichts mit der individuellen Entscheidung zu tun hat. Beziehungen sind eben in erster Linie kein Zugewinn, sondern Beschränkung und der Verlust an Möglichkeiten und Lebensmodell-Optionen. Dem gegenüber, und ausgleichend, tritt nur eines als Positivum der exklusiven Liebe hervor: Das eigene Schicksal, und der Entschluss, eines zu haben.
Erfrischende Töne aus der Feder einer Frau, die heuer gerade mal 35 wird.
Die Patchwork Lüge – Eine Streitschrift
Melanie Mühl
Hanser Verlag, München
23.90 Euro
“Wer die herrliche Gesellschaft will, muss die Dämliche überwinden.”
Melanie Mühl hinterfragt außerordentlich kritisch Patchwork-Familien, Scheidung und das moderne Selbstverständnis von Müttern und Vätern (und solchen, die es einmal werden könnten). Unsere Gesellschaft ist durcheinander, alte Wertestrukturen lösen sich auf, Selbstverwirklichung, Individualismus und Erfolgsstreben sind tonangebend. Ihnen kann sich kaum einer entziehen. Mühl stellt richtigerweise fest, dass – wer eine Familie gründen will – nicht gleichzeitig auf zwei Hochzeiten tanzen kann: der der eigenen Karriereoptimierung und der der Familie. Beides geht nicht, zumal schon die Kinder-betreuungseinrichtungen in ihrer Anzahl zu gering sind. Darüberhinaus kritisiert sie eine sehr weit verbreitete Einstellung zur Partnerschaft: nämlich die, wonach „jeder Mensch ersetzbar“ wäre, also Partner zu „Lebensabschnittsgefährten“ degradiert werden. Ein sich festlegen und „durchhalten“, marschieren durch gute und schlechte Zeiten, ist nur noch für wenige Paare ein Ideal. Lieber trennt man sich. Eherecht und gesellschaftlicher Konsens machen es auch moralisch einfach. Die leidtragenden sind die Kinder, die nachgewiesenermaßen ein vielfach erhöhtes Risiko haben, mangels „Nestwärme“ selbst einmal Problemkinder zu werden: charakterliche Defizite und gesundheitliche Problemkonstella-tionen (Depressionen etc.). Und da sich in unserer Gesellschaft bereits ein Wandel des Familienbildes in Gang gesetzt hat, stellt Frau Mühl richtigerweise fest, wie sehr sich die Werteordnung bereits verschoben hätte. Eine Patchwork-Familie wird nicht mehr als gescheitertes Modell verstanden, sondern als „Bereicherung“; unsere Bundespräsidenten-Familie geht mit gutem Beispiel voran. Nicht mehr Beständigkeit sind von Wert, sondern Bipolarität, Abwechslungsreichtum, Buntheit. Dass dabei Ruhe, Verlässlichkeit und Stabilität verloren gehen, wird konsequent ignoriert und allenfalls den Konservati-ven als negative – verharrende – Charaktereigenschaft zugesprochen, die primär als Kriterium eigener Angst aufgefasst wird.
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Das Buch hat mir aus der Seele gesprochen. In vielerlei Hinsicht finden sich eigene Beobachtungen bestätigt. Melanie Mühl argumentiert nicht aus der Perspektive einer konservativen „Kulturkritikerin“, die das „Ende vom Abendland“ kommen sieht, sondern hinterfragt intelligent mittlerweile akzeptierte Änderungen, nämlich solche die eigentlich – wenn man sie einmal unvoreingenommen betrachtet – mehr den Zerfall der Gesellschaft anzeigen als deren Fortschritt.
Mühl hat sich getraut und in einer „Streitschrift“ eine der wesentlichen und dramatischen Lebenslügen von immer mehr Menschen und einer ganzen Gesellschaft angegriffen. Sie nennt es die „Patchwork-Lüge“ und meint damit nicht nur das Schönreden und Idealisieren der sogenannten „Patchwork-Familien“, von denen sich viele redlich abmühen, sondern sie identifiziert das Flickwerk als Muster für das Leben vieler Menschen generell und für die Gesellschaft.
Einer Gesellschaft, die sich in ihren Fernsehsendungen und Filmen schon gar nicht mehr traut, eine ganz normale Familie darzustellen. Eine Gesellschaft, die nicht wahrhaben will, welche schlimmen und meist lebenslangen Folgen die immer mehr zunehmenden Scheidungen von Ehen für die sogenannten Scheidungskinder hat. Eine Gesellschaft, deren Mitglieder in einer immer größeren Zahl einfach nicht erwachsen werden wollen:
„Heute ist uns die Vorstellung davon, was Erwachsensein heißt, abhandengekommen. Erwachsen sein heißt, Entscheidungen zu treffen. Indem wir uns auf eine Option festlegen, schließen wir andere Optionen aus. Wir verzichten auf etwas und übernehmen für etwas Verantwortung, für einen Menschen zum Beispiel oder für eine Familie.
Erwachsensein bedeutet, die banale Tatsache zu akzeptieren, dass sich nicht jeder Wunsch verwirklichen lässt und Lebensabschnitte einander abwechseln. Erwachsensein kann ein beruhigendes Gefühl vermitteln. Die Möglichkeitswelt ist kleiner geworden, sie erfordert keine permanenten Revision, weil man nicht fürchtet, Erlebnisse, Menschen oder irgendetwas sonst zu verpassen. Man ist angekommen.“
Doch diese Kulturleistung können und wollen viele Menschen nicht mehr erbringen. Ein immer weiter um sich greifender Jugendwahn, der bei Männern nicht weniger abstoßend und lächerlich daherkommt als bei Frauen, der dauernde Druck, Spaß haben zu wollen und Bedürfnisse sofort zu befriedigen, auch sexuelle, koste es, was es wolle, all das ist nicht Ausdruck, sondern die dramatische Folge einer schon lange sich zeigenden Entwicklung, die zum gesellschaftlichen Flickwerk wurde.
Und sie hat lange wirkende und sich über die Generationen ausbreitende Wirkung: „Es wird immer unwahrscheinlicher, dass sich zwei Menschen aus zwei intakten Familien ineinander verlieben, weil es immer weniger intakte Familien gibt. Letzten Endes infizieren die Bindungsneurotiker die Übriggebliebenen mit dem Virus der Einsamkeit. Wie die Depression, ist die Einsamkeit eine Ansteckungserkrankung.“
Eine fürchterliche Vision, die jedoch realistisch ist. Denn „wir sitzen in einem gesellschaftlichen Experiment fest, das wir auf den Weg gebracht und über das wir die Kontrolle verloren haben. Wie es ausgeht, ist völlig ungewiss. Was wir allerdings wissen, ist, dass das Experiment eine verhängnisvolle Richtung eingeschlagen hat, das lässt sich belegen. Die Zahl der Scheidungs- und emotional vernachlässigten Kinder wächst kontinuierlich, wir ziehen immer mehr Narzissten und Egoisten heran, die im selben Atemzug verwöhnt werden wie Prinzen und gedrillt, als seien sie Militäranwärter. Das Trauma der Trennung, früher Liebesentzug, Überforderung, führen in die innere Emigration.“
Solche Menschenkinder, die ohne tiefe Bindung aufwachsen, können später ihren eigenen Kindern, wenn sie denn welche bekommen, niemals das geben, was sie selbst nie erfahren haben, und so geht das Spiel immer weiter. Man kann es in unseren Kindergärten und Schulen täglich beobachten, wie vielen unserer Kinder jegliches Gefühl für Empathie und Fürsorglichkeit abhanden gekommen ist.
Statt sich zu vernetzen, wie es der Selbsterhaltungstrieb fordert, treiben die Generationen immer weiter auseinander. Und das ist ernst:
„Wir sprechen nicht über ein paar Kindheitstraumata, die nur die Persönlichkeit Einzelner betreffen, wir sprechen über nicht weniger als den Zusammenhalt unserer Gesellschaft. Kinder, die in unverbindlichen Sozialkonstruktionen aufwachsen, die sich selbst überlassen werden, verlieren jedes Gefühl für Bindungen, für Freundschaft, Liebe und Solidarität. Sie sind Vagabundierende, an keinem Ort verankert, ohne feste Beziehungen, nicht einmal der zum eigenen Ich. Das macht sie zu tickenden Zeitbomben. Denn irgendwann werden die Kinder Erwachsene sein, und das psychische Profil einer ganzen Generation prägen.“
Wer sich über den aktuellen Stand der Bindungstheorie verständlich und anschaulich informieren möchte, den verweise ich auf: Eva Rass, Bindung und Sicherheit im Lebenslauf, Klett-Cotta 2011. Empfehlen möchte ich auch neben Melanie Mühls engagierter Streitschrift das nicht weniger engagierte Buch Ihrer Kollegin von der ZEIT, Susanne Gaschke, das unter dem Titel „Die verkaufte Kindheit“ soeben bei Pantheon erschienen ist.
Patchwork ist modern, cool und unkonventionell, das gaukeln uns die Medien in bunten Bildern Tag für Tag vor. Die Wahrheit ist eine andere: Scheidungskinder können so etwas wie psychisch tickende Zeitbomben sein: „Sie haben kein Gefühl für Bindungen, für Liebe und Solidarität. Sie sind Vagabundierende ohne feste Beziehungen, an keinem Ort verankert, sogar ohne Bezug zum eigenen Ich“, wie die deutsche Autorin Melanie Mühl resümiert. Dieser Befund lässt eine der größten gesellschaftlichen Blasen der Gegenwart platzen: Die vermeintlich heile Welt der Patchworkfamilie, wie sie uns etwa auch Hollywood-Stars regelmäßig im Vorabendfernsehen vorspielen, entpuppt sich allmählich als Scherbenhaufen.
Fast jede zweite Ehe wird heute geschieden, über die Trennungsrate von nicht verheirateten Eltern kann man nur spekulieren. Jedenfalls kennt man längst mehr Patchworksprösslinge als Mitglieder einer klassischen, traditionellen Familie. Patchwork ist Alltag geworden. Wurden solche Verbände früher noch als „Zweitfamilie“ oder „Stieffamilie“ bezeichnet, gibt es seit den 1990er Jahren den Begriff „Patchwork“. Der Unterschied ist augenfällig: Die alten Bezeichnungen suggerieren noch ein Davor, eine ursprüngliche Familie. Der Begriff Patchwork meint dagegen schlicht „Flickwerk“, stammt ursprünglich aus der Textilverarbeitung und war zunächst eher abwertend gemeint – Schrott und Ausschuss sind Synonyme –, im Duden steht er erst seit dem Jahr 2000.
Heute hingegen haftet der Patchworkfamilie nichts Negatives mehr an. Das Flicken, das Zusammenbringen von unterschiedlichsten Menschen und Bedürfnissen wird längst sogar als etwas Lässiges und Positives gewertet. Das Früher, der geplatzte Traum von der großen Liebe, ist kein Thema mehr. Patchwork heißt: Kein Problem, zurück an den Start, einfach nochmals probieren. Tschüss!
Die Bedeutungsverschiebung setzte ein, als dieses Familienmodell gesellschaftlicher Alltag wurde – und das ist noch nicht lange her. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als eine Vielzahl von Männern, und damit auch Vätern, tot oder vermisst waren, hatten es die Frauen und Kinder wahrlich nicht leicht. Die Mütter, oft gar nicht oder nur schlecht ausgebildet, mussten die Familien versorgen, den „Vater-Part“ also auch übernehmen. Da kam ein neuer Mann, ob er nun eine neue Liebe war oder nicht, gerade recht. Schließlich war „Vater-Mutter-Kind“ ein Ideal, „Mutter-Kind-Stiefvater“ die zweite Wahl, aber besser als alleinerziehend – schon nur aus finanziellen Überlegungen. In der Nachkriegszeit waren Romantik und die große Liebe eher zweitrangig.
Mit der 1968er-Revolution begann das soziale Gefüge zu wanken. Gesellschaftliche Rollenbilder wurden neu überdacht, auch die der Mutter und des Vaters. Die klassische Familie stand plötzlich im Verdacht, ihre Mitglieder kaputt zu machen und ziemlich gefährlich für die emotionale Entwicklung der Kinder – und damit auch für deren zukünftige Spielräume bei der Selbstverwirklichung – zu sein, hatte sie doch eine Generation zuvor nur dumpfe Nazis hervorgebracht.
Zur gleichen Zeit begann die Individualisierung der Gesellschaft: Jeder sollte fortan sein eigenes Glück finden dürfen. Und sollte man irgendwann ernüchtert feststellen müssen, dass man nicht mehr glücklich ist, dann schaut man sich eben ganz einfach woanders um. „Anything goes“, lautete das Motto. Die radikalste Ausformung dieser Ansicht war wohl in den Kommunen der 1960er und 70er Jahre zu finden. Die meisten Mitglieder der jungen Generation waren sich in einem Punkt einig: Alles Althergebrachte strikt ablehnen, und bloß nicht die alten Muster wiederholen!
Waren Scheidung und das Gründen einer neuen Familie kurz zuvor noch das gewagte Ausprobieren eines radikal anderen Lebensentwurfes, so wurde dieses Familienmodell sukzessive vorherrschend. Und wonach die Mehrheit lebt, das kann doch nicht schlecht sein. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, wurde die Patchworkfamilie umgewertet: Niemand muss mehr in einer frustrierenden Beziehung sein Leben fristen, denn die neue Liebe wartet schon! Mach dich frei, es gibt mehrere passende Partner für dich, finde dein Glück! Und auch die Kinder, so hieß es, könnten davon nur profitieren. Klar, zuerst müssen sie durch den Schmerz hindurch, denn sie werden ja vom geliebten Vater oder, weitaus seltener, von der geliebten Mutter verlassen. Dann aber, so wurde suggeriert, erleben sie, wie wunderbar bereichernd neue Geschwister, ein neuer Papi, eine zusätzliche Oma und ein dritter Opa wirken. Das Je-mehr-desto-besser machte Schule, und so gibt es heute Familienkonglomerate mit acht Omas und einer unüberschaubaren Anzahl von Cousins. Patchworkkinder müssen demnach flexibel sein – es bleibt ihnen nichts anderes übrig. Sie würden, so hieß es, früher selbstständig, und sie könnten Verantwortung übernehmen. Zumindest unterschwellig war der Tenor, dass Kinder mit einer Patchworkfamilie besser dran sind als mit einer traditionellen. Diese Fülle von neuartigen sozialen Verbindungen!
All das, so zeigt sich rückblickend, war jedoch fatal. In ihrem Buch „Die Patchwork-Lüge“ entzaubert die FAZ-Journalistin Melanie Mühl dieses moderne Familienmodell. Sie stützt sich dabei auf eine Langzeitstudie der US-Psychologin Judith Wallerstein, die über 25 Jahre 131 Kinder aus Scheidungsfamilien begleitet hat. Deren Entwicklung verglich die Wissenschafterin mit Kindern, die aus einer ähnlichen Familie (kalifornischer Mittelstand) stammten, deren Eltern jedoch weiterhin verheiratet waren. Außerdem wählte sie nur solche Kinder aus, die zu Beginn der Studie psychisch robust waren.
Nun, 25 Jahre später, zeigt sich, was der gesunde Hausverstand immer schon geahnt hatte: Scheidungskinder werden signifikant häufiger depressiv, sie neigen stärker zu Drogenkonsum, zu Nikotin- und Alkoholmissbrauch, und sie begehen sogar häufiger Selbstmord als Kinder aus intakten Familien. Selbst im Erwachsenenalter leiden sie noch unter dem Verlustschmerz. Sie sehnen sich nach der echten Familie, landen dann allerdings nahezu doppelt so oft vor dem Scheidungsrichter wie die anderen.
Es geht nicht um die Beschwörung eines heilen Familienbildes, das es ohnedies nie gegeben hat. Und es ist klar, dass auch Patchworkfamilien funktionieren können, dass auch in ihnen glückliche Kinder heranwachsen, die das Leben meistern werden. „Dennoch darf man nicht vergessen“, warnt Melanie Mühl, „dass Scheidungskinder das Gegenteil von Verbindlichkeit erleben. Die Familie, die Halt gab, Geborgenheit, Sicherheit, die existiert plötzlich nicht mehr, das ist ein Schock. Die Kinder sahen zu, wie das, was sich trennend zwischen ihre Eltern geschoben hat, letztlich den Sieg davontrug.“
Diese Kinder haben das Scheitern verinnerlicht. Sie wissen nicht, wie man Konflikte beilegt, sie wissen nicht, wie man die Familie gegen Angriffe von innen und außen verteidigt. Mühl: „Sie wissen nicht, wie Familie funktioniert, wie sich Zusammengehörigkeit anfühlt, was eine Schicksalsgemeinschaft ist, sie haben es ja nie gelernt. In ihrer Vorstellungswelt ist nichts von Dauer. Alles kann jederzeit auf den Kopf gestellt werden.“
Das Glück der Eltern ist nicht das Glück der Kinder. Eltern können neu anfangen, Kinder nicht. Sie lernen, dass es keine Beständigkeit gibt, dass alles ersetzbar ist – und daher keinen Wert hat.
Scheidungskinder müssen über den Schmerz des Verlassenwerdens hinwegkommen, danach Mühsal und Hürden einer Fernbeziehung überwinden, was schon für Erwachsene kaum bewältigbar ist. Scheidungskinder müssen es schaffen, nicht in die Falle der Elternrolle zu tappen, also den verbliebenen Elternteil zu stützen, die Geschwister zu versorgen, Partnerersatz und Ratgeber sein zu wollen. Dazwischen sollten sie es aushalten, wenn die eigenen Eltern schlecht übereinander reden. Das muss gar nicht direkt passieren, schlimm genug sind schon Sticheleien wie „Wenn deine Mutter möchte, dass du reiten gehst, dann soll sie das auch selbst bezahlen.“
Hinzu kommt die Tatsache, dass Eltern zumeist eine besondere, ganz eigene Beziehung und Nähe zu ihren biologischen Kindern haben. Der Stiefmutter kommt man eben nicht immer so nahe wie die Stiefgeschwister, das muss man erst einmal verkraften! Und noch vieles andere durchleben, wenn man in ein Patchwork gesteckt wird.
„Wir sitzen in einem gesellschaftlichen Experiment fest, das wir auf den Weg gebracht und über das wir die Kontrolle verloren haben“, schreibt Melanie Mühl. Die Zahl der Scheidungskinder wächst kontinuierlich, das Trauma von Trennung, Liebesentzug und die Notwendigkeit, zum Manager der eigenen Gefühle zu werden, weil man den Vater nur an jedem zweiten Wochenende sieht und Sehnsucht in diesem Zeitplan nicht vorgesehen ist, führen unweigerlich in die innere Emigration. Mühl: „Das Gehirn fährt die Gefühle automatisch herunter, so, als handle es sich um den Lautstärkeregler einer Stereoanlage.“
Es gehe nicht um Einzelschicksale, so Mühl, vielmehr jedoch um den zukünftigen Zusammenhalt der Gesellschaft. Denn die Opfer der Vergangenheit sind die Täter der Zukunft. „Was Kindern angetan wird, das werden sie der Gesellschaft antun“, sagte der US-Psychiater Karl A. Menninger. Irgendwann werden die Kinder erwachsen sein und dann die psychische Befindlichkeit einer ganzen Generation prägen.